„Was Sie hier erscheinen sehen, ist eine neue Welt.” Das sagte 1938 Stephan Lackner über die Werke von Max Beckmann. Dieser Satz gilt auch für die Arbeiten von Christa Murken. Als kraftvolle Interpretin erfasst sie die Umbrüche unserer Zeit. Sie begreift die Welt als Bühne, ihre Bilder behandeln die Tragödien ihres „Welttheaters“.
Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückt der Mensch in den Vordergrund, und sein Menschsein wird überprüft und neu definiert. Darüber hinaus scheut die Künstlerin sich keinesfalls, Rückgriffe auf noch weiter zurückliegende Kunst-epochen aufzugreifen. Sie zitiert die großen Meister der Vergangenheit. „Alte und neue Mythen verbinden sich ebenso wie die stilistischen Merkmale traditioneller und moderner Malerei“, sagt die Künstlerin.
Christa Murken, Malerin und Kunsthistorikerin, kann aus einem gewaltigen Fundus großartiger Werke der Kunstge-schichte zurückgreifen. „Neues schöpft aus Traditionen!“ Dazu kommen etliche Jahre Erfahrung, ein phänomenales Bildgedächtnis, ein feines Gespür für Farben und Formen sowie Fantasie und ein Blick für das Wesentliche. Man findet Stillleben, Porträts, mythologische Szenen, Genrebilder, Menschen in der Landschaft, Bilder, die Assoziationen in uns wecken, Bilder, die sich mit zeitgenössischen Problemen auseinandersetzen, Bilder, die zum Nachdenken anregen, die uns in die Vergangenheit entführen, Bilder, die uns ein Lächeln auf die Lippen zaubern.
Sie selbst fasst das Thema ihrer Werke wie folgt zusammen: „Der Mensch und die Auswirkungen seiner Entschei-dungen auf die Umwelt.“ Künstlerische Entwicklungen, welche die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Ich und die menschliche Seele in den Mittelpunkt des Schaffens stellen, üben seit jeher eine besondere Anziehungskraft auf den Kunstbetrachter aus. Mythologische Phänomene als lebendiges Erbe unserer Existenz sind verbunden und aktualisiert mit der gegenwartsbestimmten Sichtweise der Künstlerin.
Wir leben in einer gigantischen Bilderflut. Und ein Künstler ist in eine Tradition eingebunden, in der seine Arbeiten sich eigenständig behaupten wollen. Die Frage ist: Wie verknüpft ein heutiger Künstler die beiden scheinbar weit ausein-ander liegenden Pole der Tradition mit dem eigenen Ich und der nicht wegzudenkenden Experimentierfreudigkeit, die einen Künstler letztendlich ausmachen ? Christa Murken äußert sich dazu wie folgt: „Es ist schwer, in unserer virtuellen, global vereinnahmten Welt die Werte zu erkennen und zu erhalten, die das Fundament unserer abendländischen Kultur sind.
Die Künstlerin liest etwas in der Zeitung, nimmt etwas in ihrer Umgebung wahr, das sie berührt, kombiniert dies mit Zitaten aus der Kunstgeschichte. Und so wie das Sonnenlicht den Prozess der Photosynthese in einer Pflanze auslöst, werden mit der Handlung der Künstlerin, die in einem kreativen Prozess das vorhandene Bildmaterial neu zusammenfügt, neue Bildinhalte kreiert. Da können neben De Chiricos Gemälden plötzlich der Schlitten von Joseph Beuys und der Hase von Albrecht Dürer in einem Bild zusammenkommen. Da findet man einen Madonnenkopf von Raffael vor Keith Harings Figuren, da spricht Jesus in seiner Bergpredigt zu Gänsen, da ist eine Frau, die, einem überladenen Barockschinken entsprungen, ursprünglich auf den neugeborenen Jesusknaben deutet, nun aber auf ein Huhn zeigt. Da springen Daedalus und Ikarus mit ihren angeklebten Federflügeln von einem Felsen herab in einen Offshore-Windpark.
Die Zitate aus der Kunstgeschichte bilden die Voraussetzung für die durch spontane Inspiration entstehenden Bildideen, welche das Mittel sind, bildsprachliche Informationen über das persönliche Unterbewusstsein und über ein allgemeines Unterbewusstes in der Malerei zu manifestieren, zum Zwecke allgemeiner und persönlicher Wahrheitsfindung.
Ihre vielfältigen Techniken und Ausdrucksweisen geben ihr Gelegenheit zum Aufbau einer vielgestaltigen Welt, entsprechend den Stimmungen und Veränderungen. Der existentielle Zustand des Menschen ist ihr grundlegendes Thema. Ihre Bilder zeigen Einzelfiguren in einer fremden Landschaft. Oft werden zwei menschliche Figuren so dargestellt, als würden sie den Zustand der Verlassenheit in einer fremden Welt teilen.
In ihrer grundsätzlichen Einsamkeit ähneln ihre Figuren denen Giacomettis. Wie Giacometti verfolgt Christa Murken die Schaffung eines Grundbildes, eines elementaren Ausdrucks des Daseins. Neben überschwänglichen barocken Formen ist sie ebenso beeindruckt von der Ausdruckskraft, die der Einfachheit und Symbolik der frühen flämischen Meister innewohnt. In ihrer kraftvollen Einfachheit ähneln ihre Figuren denen van Eycks und werden ähnlich wie bei van Eyck häufig vor dem Hintergrund einer fremdartigen und bizarren Landschaft dargestellt.
Eine grundlegende Frage, die Christa Murken zu stellen scheint, ist, ob es einen Ausweg aus dieser menschlichen Komödie/Tragödie geben kann. Gibt der Akt des künstlerischen Schaffens der Existenz Ordnung und Sinn ? Die Malerei ist für Christa Murken keinesfalls nur ein Spiel mit Zitaten, mit ästhetischen Wirkungen und optischen Effekten. Sie bezieht Stellung gegenüber dem Menschen zu seiner Umwelt, die aus den Fugen zu brechen droht und den zerstörerischen Menschen entlarvt.
„Was bleibt …“, sagt Christa Murken, „… sind die Liebe, die Sinnlichkeit, die Schönheit der noch verbliebenen Natur – Momente, die gerade von den alten Meistern in Bild und Wort festgehalten wurden.“